_transcending horizon_
2021 {Diploma project at HGB Leipzig}
Der Horizont ist eine Linie, wo Himmel und Erde scheinbar aufeinandertreffen. Vorstellbares und das, was unsere Vorstellung bzw. Kenntnisse überschreitet grenzen hier aneinander. Er kann Beschränkung, Warnung oder Hindernis sein, aber auch ein Wegweiser in die Freiheit oder Lockmittel in Unbekanntes, ein Anreiz zum Ausbruch. Der Horizont kann als Grenze des eigenen Sichtfeldes bezeichnet werden oder als Grenze des eigenen Wissens, der eigenen Erfahrung. Er kann die Grenze der eigenen Systematik bedeuten. Eine Gesellschaft prägt ihre Individuen mit Strukturen, Denksystemen und Handlungsmustern. Sie gibt ihnen eine Anleitung, einen Plan zum Leben. Durch diese Normierung des Lebens schließt sie dessen unendlich größeren Teil von Möglichkeiten und Gelegenheiten aus.
Den Horizont überschreiten bedeutet also auch, Überraschungen anzunehmen, offen für Überraschung und Unbekanntes sein und keine Angst davor zu haben. Systeme, Planung und Normen grenzen Abweichungen aus, "bewahren" uns scheinbar vor Unerwartetem und Neuem, meist hassen sie Überraschungen.
Aber: Überraschung hält uns lebendig. Sie macht uns interessiert und neugierig, sie lässt uns wundern. Sie verleiht uns Antrieb und Inspiration. Sie schafft Diskurs und Gegensprache. „Ich würde über Individuen sagen, dass ein Individuum stirbt, wenn es aufhört, überrascht zu sein. Ich bin jeden Morgen aufs Neue überrascht, wenn die Sonne scheint. Wenn ich eine böse Tat sehe, bin ich nicht indifferent. Ich gewöhne mich nicht an die Gewalt, der ich begegne, ich bin immer noch überrascht. Deshalb bin ich dagegen, deshalb kann ich ihr meine Hoffnung entgegensetzen. Wir müssen lernen überrascht zu sein, nicht uns anzupassen.“ (Abraham Joshua Heschel)
In der gesamten Arbeit werden Horizonte, Normativität und ihre Symptome in 3 Komplexen aus unterschiedlicher Perspektive erforscht. Sie zeigen jeweils andere Aspekte von Horizont. Das künstlerische Vorgehen fand prozessorientiert und wechselwirkend statt, Texte, Bilder, Skulpturen etc. entstanden parallel, verschiedene Arbeiten beziehen sich inhaltlich und formal aufeinander und ergänzen sich gegenseitig. Inhaltlich werden Fragen behandelt wie: Inwiefern wir Opfer der eigenen Normen sind, wie sie uns einschränken, belasten oder auch verletzen können. Wie Normativität uns am Leben und an unserer Entfaltung hindern kann. Ob man dem Anspruch, den Erwartungen – dem Horizont anderer Personen bzw. einer ganzen Gesellschaft überhaupt gerecht werden muss, kann oder will. Wie Normen uns Angst machen können vor allem, was ihnen nicht entspricht. Wie wir sie anderen aufdrücken. Wie Normen uns dazu verleiten, über andere zu urteilen. Wie wir uns durch Normen berechtigt fühlen, die Grenzen anderer zu überschreiten. Wieviel Vielfalt uns durch das Verfolgen von Normativität entgeht.
"Glitched bodies–[…]–pose a thread to social order. Range-full and vast they cannot be programmed"
(Russel, Legacy: Glitch Feminism, A Manifesto. New York 2020, S.25)